Ziel der Entwicklung

Logo:  Virusinaktivierung durch polyionische Beschichtungen, © Michèle Biehl – Thüringisches Institut für Textil- und Kunststoff-Forschung e. V.
Virusinaktivierung durch polyionische Beschichtungen, © Michèle Biehl – Thüringisches Institut für Textil- und Kunststoff-Forschung e. V.

Neu und vermehrt auftretende virale Erkrankungen stellen trotz aller hygienischen, diagnostischen und therapeutischen Errungenschaften, nach wie vor eine immense Herausforderung für die Wirtschaft, Medizin und Gesundheitspolitik des 21. Jahrhunderts dar, wie jüngste Beispiele belegen. So erkrankten in den Jahren 2002-2003 insgesamt 7.761 Menschen am sogenannten „Severe Acute Respiratory Syndromes“, ausgelöst durch den SARS-Virus, welcher binnen weniger Tage von Südostasien über Europa nach Nordamerika und Kanada expandierte. 623 Menschen starben sogar. Auch die Erreger der mexikanischen Grippe (H1N1) und des „Middle East Respiratory Syndromes“ (MERS-CoV) zeigten innerhalb kürzester Zeit pandemische Ausmaße. So berichtete das RKI 2009-2010 von insgesamt 225.729 Krankheits- und 250 Todesfällen aufgrund von H1N1-Infektionen. An MERS-CoV erkrankten im Jahr 2012 weltweit 971 Menschen, 356 kamen zu Tode. Doch die mit Abstand grassierenste Virusinfektion brach Ende des Jahres 2019 in China aus, als sich eine zunächst unbekannte Lungenerkrankung binnen Monaten zu einer weltweiten Pandemie ausweitete. Als Ursache wurde ein neuartiges Coronavirus mit dem Namen Covid-19 identifiziert, dass mit dem Erreger der SARS-Pandemie von 2002/03 verwandt war. In nur knapp einem Jahr hat sich das Virus in mehr als 185 Ländern ausgebreitet und aktuell weltweit über 704 Mio. Menschen infiziert. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich derzeit auf mehr als 7 Mio. Fälle (Stand April 2024).
Einerseits gelangen respiratorische Viren, wie die genannten Coronaviren, mit der Atemluft in Form von feinen Aerosolen in die tiefen Atemwege und umgehen damit wichtige physikalische und immunologische Barrieren. Andererseits werden sie als winzige Tröpfchen im respiratorischem Sekret beim Sprechen, Husten oder Niesen, aber auch bei medizinischen Interventionen (z. B. endotracheale Intubation, Sputuminduktion, Bronchoskopie, zahnärztliche Tätigkeiten, Absaugen aus den Atemwegen) auf die Schleimhaut des Rezipients übertragen. Ein Ansteckungsrisiko besteht auch durch infizierte Oberflächen, da viele Viren monatelang auf unbelebten Flächen persistieren können, ohne dabei an Infektiosität zu verlieren. Eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung ist die Folge, deren Eindämmung aufgrund fehlender Therapien in vielen Fällen schwierig ist.
Doch die globale Ausweitung derartiger Viruserkrankungen hat nicht nur weitreichende soziale Folgen, sondern verursacht auch massive wirtschaftliche Schäden. Weltweit werden Lieferketten gestört oder gar unterbrochen. Die nationale und internationale Mobilität ist stark eingeschränkt. So geriet die deutsche Wirtschaft im Corona-Krisenjahr 2020, nach einer zehnjährigen Wachstumsphase, in eine tiefe Rezession. Der konjunkturelle Einbruch belief sich auf -5,3 % und war mit dem, der internationalen Finanzkrise 2009 vergleichbar.
Filtrationsanwendungen können helfen die Übertragung infektiöser Aerosole zu unterbinden. Daher empfiehlt u. a. die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) den Einbau einer zentralen raumlufttechnischen Anlage mit endständiger Schwebstoff-Filtration (ULPA-, EPA- oder HEPA-Filter) im medizinischen Bereich für die Behandlung von immunsupprimierten Personen oder Patienten mit aerogen-übertragbaren Infektionskrankheiten. Doch birgt der Einsatz dieser feinstrukturierten Mikroglasfasern die Gefahr der Freisetzung lungengängiger Teilchen, die sich in den Bronchien festsetzen, verkapseln und dort zur Ausbildung tumorösen Gewebes neigen. Darüber hinaus werden diese zerbrechlichen Filtermedien beim Transport, der Installation oder der Wartung häufig beschädigt. Ihre enorme Filterwirkung bringt zudem einen erheblichen Druckverlust mit sich, der den Energiebedarf der Ventilatoren in Lüftungsanlagen erheblich ansteigen lässt, weswegen der Einsatz dieser Filterlösung stets mit hohen Gesamtbetriebskosten verbunden ist. Daher sind effiziente, gleichzeitig aber günstigere und gesundheitlich unbedenkliche Alternativen gefragt.
Ein weiteres Beispiel für revisionsbedürftige Filteranwendungen finden sich u.a. in der Anästhesie und Infusionstherapie in Form von Injektions- und Infusionsfiltern. Handelsübliche Infusionslösungen werden zwar in weitgehend steriler Produktionsumgebung hergestellt, doch während der Handhabung und manuellen Zubereitung treten nicht selten mikrobielle Kontaminationen auf. Der Einsatz von Inline-Infusionsfilter soll daher schon bald zum Therapiestandard gehören. Mit Porengrößen ≤ 0,22 μm dienen sie bereits dem Abfangen potentieller Pathogene, wie Bakterien und Schimmelpilzen (Mikrofiltration). Viren lassen sich jedoch, aufgrund ihrer geringen Größe, durch diese Methode nicht eliminieren. Überdies verhindert der feine Porendurchmesser die Filtration viskoser Medien (z. B. Blut, Fettemulsionen). Daher besteht auch in diesem Anwendungsbereich ein hoher Bedarf an neuen und verbesserten Filtermaterialien/-lösungen, insbesondere mit virusinaktivierenden Eigenschaften.

Vorteile und Lösungen

Um künftig die Keimtransferrate in öffentlichen Einrichtungen, aber auch im häuslichen Umfeld nachweislich zu senken, sollten verschiedenste Kunststoffoberflächen mit antiviralen Eigenschaften ausgerüstet werden. Als vielversprechende Kandidaten hierfür erwiesen sich die Polyelektrolyte. Polyelektrolyte sind langkettige, wasserlösliche Verbindungen (Polymere), die sich durch eine Vielzahl an positiv- und/oder negativ-geladenen Gruppen auszeichnen. Diese elektrischen Ladungen ermöglichen es ihnen u. a. Viren einzufangen. Durch die Interaktion der Polyelektrolyte mit den Proteinen der Virushülle verhindern sie nicht nur die Anlagerung der Viren an den Wirtsorganismus (z. B. Mensch), sondern auch die Virusvermehrung. Es findet also keine Infektion statt.
Für die Funktionalisierung der Oberflächen wurden Polyelektrolyte mit speziellen Eigenschaften ausgewählt: So mussten sie einen extrazellulären antiviralen Wirkmechanismus aufwiesen, um auch nach Anbindung an die Kunststoffoberfläche noch antiviral wirksam zu sein. Sie durften keine schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken bergen, sowie keine immunmodulatorischen Effekte zeigen. Immunmodulatoren unterbinden zwar indirekt die Virusvermehrung, indem sie die Bildung körpereigener Abwehrstoffe (Interferone) stimulieren. Doch führt eine übermäßige Anzahl an Interferonen im menschlichen Körper innerhalb von wenigen Stunden zu gesundheitlichen Beschwerden, wie Grippe-ähnlichen Symptomen, Hypo- oder Hypertonie, Tachykardie, Kopfschmerzen, Myalgien und Magen-Darm-Erkrankungen. Auch Subakute und chronische Effekte, wie kognitive Veränderungen und neurologische Toxizitäten, einschließlich Müdigkeit/Asthenie können sich entwickeln.
Angesichts der genannten Kriterien fiel die Wahl u. a. auf die kationischen Polyelektrolyte Polyallylamin (PAAm) und Polyvinylamin (PVAm). Um nicht nur die Sicherheit und gesundheitliche Unbedenklichkeit der ausgerüsteten Filtermaterialien und Kunststoffoberflächen für den zukünftigen Anwender zu gewährleisten, sondern auch eine gewisse Langzeitstabilität und Wirkpermanenz zu erzielen, war eine kovalente Anbindung dieser Polyelektrolyte unerlässlich.
Als Trägerpolymere wurden zunächst technische Kunststoffe, wie Polyethylen (PE), Polypropylen (PP) und Polyamid (PA), verwendet, da sie ein breites Anwendungsspektrum abdeckten. Diese Oberflächen sind jedoch meist gegenüber Chemikalien inert, d. h. sie gehen keine chemischen Reaktionen ein. Aus diesem Grund wurden die Oberflächen zur chemischen Aktivierung einer Atmosphärendruckplasmabehandlung unterzogen. Da die Oberflächenaktivierung zeitlich instabil war, wurden im zweiten Schritt organofunktionelle Silane, als Haftvermittler, sowie anschließend die entsprechenden Polyelektrolyte im Tauchbeschichtungsverfahren auf die Trägerkunststoffe aufgebracht.
Die Beurteilung der virusinaktivierenden Wirksamkeit erfolgte in Anlehnung an die bereits bestehenden Normen ISO 21702 und ISO 18184 unter Verwendung von Bakteriophagen, die angesichts ihrer Hüllstruktur und Umweltstabilität vergleichbar mit klinisch relevanten Viren waren. Dabei zeigten die PVAm- und PAAm-Beschichtungen in Abhängigkeit zur eingesetzten Additivkonzentration gut bis sehr gute antivirale Wirksamkeiten gegenüber dem behüllten Bakteriophagen phi 6 DSM 21518.
Durch Lagerung der virusinaktivierenden Beschichtungen für 18 Monate in luftdichtverschlossenen Gefäßen bei Raumtemperatur und erneute Überprüfung der Wirksamkeit konnte die Langzeitstabilität belegt werden.
Um den Grundstein für die Konformitätsbewertung im Zuge einer Zulassung und Anwendung der Kunststoffmaterialien als Medizinprodukt zu legen und eine mögliche Gefährdung für Mensch und Umwelt auszuschließen, galt es, die funktionalisierten Polymere auf ihre Biokompatibilität anhand entsprechender tierversuchsfreier in vitro-Methoden zu untersuchen. Dazu wurde zunächst die in vitro-Zytotoxizität im Extraktionsverfahren an der normkonformen Säugerzelllinien L 929 nach DIN EN ISO 10993-5 bestimmt. Diese Prüfung ist für Medizinprodukte, die nah am oder im Körper getragen werden (z. B. Beatmungsfilter oder Atemschutzmaske), vorgeschrieben. Um zu verhindern, dass die Zellkultur einen Nährstoffmangel erfährt, aufgrund der unspezifischen Bindung von Proteinen durch die Polyelektrolyte, musste das Extraktionsverfahren geringfügig modifiziert werden. Zytotoxische Effekte der polyionischen Beschichtungen konnten jedoch nicht festgestellt werden.
Weiterhin wurden die polyionischen Werkstoffe in vitro hinsichtlich ihrer irritierender Eigenschaften an einem humanen Hautmodell nach DIN EN ISO 10993-23/OECD 439 getestet, um mögliche Hautreizungen beim Einsatz am Menschen (z. B. in Form von Berufsbekleidung) auszuschließen. Dabei erwiesen sich alle Extrakte der polykationischen Beschichtungen als nicht irritierend.

Zielgruppe und Zielmarkt

Virusinaktivierende Materialien besitzen ein großes Innovationspotenzial, von dem die industrielle Anwendung, insbesondere im Bereich der Werkstofftechnik, Medizintechnik, und Textilindustrie profitieren wird.
Durch das Forschungsvorhaben konnte das TITK e. V. seine bestehende Materialkompetenz weiter ausbauen. Nun sollen die virusinaktivierenden, polyionischen Beschichtungen auf ihre Patentfähigkeit geprüft werden, um die erzielten Ergebnisse über Lizenzvergaben und gemeinsame Entwicklungsprojekte in entsprechende antivirale Produkte umzusetzen. Hierfür soll die Entwicklung ausgewählten, renommierten Firmen exklusiv vorgestellt und zur Vermarktung angeboten werden. Parallel dazu sollen die FuE-Resultate, nach Klärung der Patentsituation, im Jahresbericht des TITK e. V. herausgegeben und in entsprechenden wissenschaftlichen Journalen publiziert werden, um die gewonnene Expertise einer breiten Öffentlichkeit kenntlich zu machen. Außerdem ist eine Verbreitung des gewonnenen Kenntnisstandes in Form von Postern und Vorträgen auf wissenschaftlichen Tagungen und Messen vorgesehen. Der vorliegende Sachbericht wird über einen Ausleihdienst der wissenschaftlichen Bibliothek des TITK e. V. und den Download-Bereich auf www.fue-foerderung.de interessierten Unternehmen zur Verfügung gestellt.
Die zu erwartenden externen, wirtschaftlichen Effekte aus dem geplanten FuE-Vorhaben setzen sich sowohl aus der direkten Umsetzung der Ergebnisse bei den Endproduktherstellern, als auch aus zusätzlichen Erträgen bei den Zulieferern zusammen.
Als Zielmarkt gilt überwiegend die Medizintechnikbranche, insbesondere solche Anwendungsbereiche, in denen Filtrationssysteme zur Infektionsprävention benötigt werden. Laut eines Berichtes des globalen Marktforschungsunternehmens „Mordor Intelligence Private Limited“ soll allein der Markt für Luftfilteranwendungen im Zeitraum 2024 2029 eine jährliche Wachstumsrate von 12 % verzeichnen. Der deutsche Markt für Luftreiniger ist dabei der Größte innerhalb der Europäischen Union und profitiert nicht nur von dem Gesamtwachstum der deutschen Wirtschaft, sondern auch vom immer stärker werdenden Bewusstsein für Wohnluftqualität und Gesundheit in der Bevölkerung.
Der globale Markt für pharmazeutische Filtrationen soll bis Ende 2033 einen jährlichen Umsatz von 38 Mrd. € erzielen und mit einer CAGR von rund 16 % wachsen. Zudem wird erwartet, dass das Segment der Mikrofiltration bis Ende 2033 den größten Umsatz erwirtschaften wird, aufgrund der steigenden Nachfrage nach sterilem Wasser, sowie der Kaltsterilisation in der pharmazeutischen Industrie. Die Medizintechnikunternehmen, die sich auf derartige Filteranwendungen spezialisiert haben (z. B. Sartorius AG), vertreiben jedoch standardmäßig bislang noch keine additivierten Filtrationssysteme. Daher könnte die Umsetzung der Forschungsergebnisse in entsprechende Applikationen bei kleinen und mittelständischen Unternehmen sowohl eine Wert- als auch Umsatzsteigerung durch die Funktionalisierung der bereits etablierten Produkte mit neuen virusinaktivierenden Wirkstoffen und Materialien auf Polyelektrolytbasis bewirken.
Für die deutsche Textil-und Bekleidungsindustrie sind funktionalisierte Fasern zur Fertigung technischer Textilien von besonderer Bedeutung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes konnte den technischen Textilien in den letzten Jahren ein Anteil von knapp 50 % am Gesamtumsatz der deutschen Textilindustrie zugerechnet werden, während diese noch vor ca. 20 Jahren lediglich ein Drittel ausmachten. Auch der deutsche Markt für persönliche Schutzausrüstung (PSA) entwickelt sich kontinuierlich positiv und wird künftig im Sinne der gesundheitlichen Prävention, als Bestandteil integrierter Sozialplanung, vermehrt an Bedeutung erlangen.
Für den Einsatz polyionischer Beschichtungen kommen grundsätzlich alle Textilien in Frage, die durch die Atemluft oder über Hautkontakt mit Viren kontaminiert werden können. Somit erschließt sich ein breites Anwendungsgebiet, das über die Fertigung elektrostatischer Virenfilter für Mundschutz- und Atemmasken, Beatmungssysteme, Luftreiniger und medizinische Vernebler weit hinausgeht. So könnte beispielsweise auch die Herstellung von Haushalts- und Krankenhaustextilien in Form von Bettwäsche, Handtüchern, Küchentüchern und Berufsbekleidung einen wertvollen Beitrag zur Infektionsprophylaxe leisten, da diese nachweislich zur Übertragung von Viren beitragen
Doch trotz der zunehmenden Nachfrage nach funktionellen Oberflächen und Filteranwendungen, existieren am Markt bislang nur sehr wenige Entwicklungsleistungen auf dem Gebiet der virusinaktivierenden Ausrüstung polymerer Werkstoffe. Polyelektrolytbasierte Materialien stellen somit eine vielversprechende Innovation dar.