Ziel der Entwicklung
Komplexe Kunststoff-Formteile werden derzeit durch Spritzgießen mit variothermer Prozessführung und werkzeuginnendruckgeregelter Nachdruckphase hergestellt. Dies ermöglicht größere Fließwege bei gleichzeitig vollständiger Formfüllung und verbesserter Maßhaltigkeit.
Beide Maßnahmen besitzen jedoch Nachteile. So erfordert ein variothermer Prozess eine höhere Werkzeugwandtemperatur und in der Folge eine höhere Kühlleistung, um vergleichbare Zykluszeiten zu erzielen. Dies verschlechtert die ohnehin ungünstige Energiebilanz beim Spritzgießen. Ebenso sind einer Verbesserung der Maßhaltigkeit durch eine ausschließliche Prozessregelung über den Werkzeuginnendruck in der Nachdruckphase Grenzen gesetzt, da der inhomogene Materialschwund und der daraus resultierende Verzug und die Eigenspannungen im wesentlichen die Folge einer inhomogenen Massenverteilung am Formteil sowie einem ungleichmäßigem Wärmetransport im Werkzeug sind.
Ziel ist die Entwicklung und technische Erprobung einer neuen praxistauglichen orts- und zeitaufgelösten variothermen Prozessführung für das Spritzgießen thermoplastischer Kunststoffe, um schwindungs-, verzugs- und eigenspannungsreduzierte Formteile in energieeffizienten Prozessen herzustellen.
Mit der neuen variothermen Prozessführung ergibt sich die Möglichkeit, abhängig von formteilspezifischen Gegebenheiten in der Einspritzphase ein fließwegabhängiges, energetisch optimales Temperaturprofil einzustellen und in der Nachdruckphase die Kunststoffschmelze ausgehend von Bereichen langer Fließwege in Richtung Anschnitt erstarren zu lassen. Auf diese Weise können die Nachdruckwirkung verbessert, Schwindungseffekte minimert, der Formteilverzug und -eigenspannungen verringert, Gefüge- und Bindenahtausbildungen verbessert werden.
Die spritzgießtechnische Qualifizierung einer derartigen orts- und zeitaufgelösten variothermen Prozessführung ist eng mit der Entwicklung und technischen Erprobung eines auf Energieeffizienz ausgelegten Werkzeugdesign verbunden. Dieses zielt auf ein thermisch funktionalisiertes und numerisch verifiziertes Multimaterialdesign hoher Steifigkeit und Lebensdauer, dass die prozessaktive thermische Werkzeugmasse auf die unmittelbare Formnestumgebung begrenzt und so die Absenkung der Werkzeuggrundtemperatur für die Stammform ermöglicht.
Vorteile und Lösungen
Der Lösungsansatz für eine orts- und zeitaufgelöste variotherme Prozessführung basiert auf der Entkopplung der prozesstechnischen Funktionen zum Heizen und Kühlen der Formnestwand durch das Temperiermedium. Die technische Entkopplung beider Funktionen besitzt die Vorteile, dass in der Einspritzphase ein fließwegabhängiges, energetisch optimales Temperaturprofil an der Formnestwand eingestellt wird und in der Nachdruckphase die Kunststoffschmelze ausgehend von Bereichen langer Fließwege in Richtung Anschnitt erstarrt. Dies gewährleistet sowohl eine vollständige Formfüllung für komplexe Formteile als auch eine verbesserte Nackdruckwirkung im Spritzgießzyklus, so dass der verarbeitungsbedingten Schwindung entgegengewirkt werden kann.
Die Entkopplung der Funktionen zum Heizen und Kühlen erfolgt durch werkzeugintegrierte Aktor-Sensor-Module und eine medienführende Kanalstruktur. Die Aktor-Sensor-Module dienen der lokal bedarfsgerechten elektrischen Erwärmung sowie dem Messen der lokalen Formnestwandtemperatur. In Verbindung mit einer eigens entwickelten adaptiven Prozessregelung kann durch lokales Zuheizen die Formnestwandtemperatur bedarfsgerecht angepasst werden. Die Funktion der medienführenden Kanalstruktur reduziert sich im Spritzgießzyklus auf reines Kühlen.
Der Lösungsansatz zur Verbesserung der Energieeffizienz basiert auf einem thermisch funktionalisierten Multimaterialdesign für das Spritzgießwerkzeug, um die zu temperierende prozessaktive thermische Werkzeugmasse auf die unmittelbare Formnestumgebung zu begrenzen und die Werkzeuggrundtemperatur abzusenken.
Zur technischen Umsetzung der Lösungsansätze wurde ein Gesamtkonzept entwickelt. Dies umfasst die Spezifikation der Anforderungen an die neue variotherme Prozessführung, das Werkzeugdesign, die adaptive Prozessregelung, die Komponenten und Baugruppen sowie die notwendigen Entwicklungs- und Prozessplanungsbausteine.
Um Einflüsse und Wechselwirkungen von Parametern im orts- und zeitaufgelösten variothermen Temperiersystem zu quantifizieren, wurden bauteilspezifische numerische Analysen mittels FEM-Prozesssimulation durchgeführt und Grenzfälle von Parameterschwankungen und deren Wirkung auf die Prozessregelung, die Abformgenauigkeit und die Energieeffizienz analysiert.
Mittels eigens entwickelter rechnergestützter Methoden und Funktionen für ein qualifiziertes Postprocessing wurden aus den numerischen Ergebnissen lokale und globale Signifikanzen für den Stoff- und Energiefluss im Formnest und Spritzgießwerkzeug abgeleitet sowie die Machbarkeit der orts- und zeitaufgelösten variothermen Prozessführung verifiziert. Die algorithmierten und programmierten Feature-Module sind Bestandteil einer Methodensammlung zur Prozess- und Werkzeugentwicklung.
Zur technischen Umsetzung der orts- und zeitaufgelösten Prozessführung wurden Aktor-Sensor-Module und eine adaptive Prozessregelung entwickelt, gebaut und in umfangreichen Untersuchungen auf ihre Leistungsfähigkeit analysiert. Gemeinsam mit einer medienführenden Kanalstruktur wurden diese zu einem werkzeugintegrierten Temperiersystem komplettiert.
Die entwickelte orts- und zeitaufgelöste variotherme Prozessführung und die verbesserte Energieeffizienz des neuen Werkzeugdesigns wurden in praxisnahen Spritzgießversuchen anhand von zwei Demonstratoren und vier Kunststoffmaterialien erfolgreich verifiziert.
Zielgruppe und Zielmarkt
Mit der entwickelten Prozessstrategie und Werkzeugtechnologie zur orts- und zeitaufgelösten variothermen Prozessführung mit energieeffizienten Werkzeugen sind qualitäts- und effizienzrelevante Ressourcen für das Kunststoffspritzgießen erschlossen.
Interessant ist die Entwicklung für Unternehmen, die neue innovative Kunststoffprodukte entwickeln, die thermoplastische Kunststoffe zu hochpräzisen Kunststoffformteilen verarbeiten und Unternehmen, die Dienstleistungen für diese Branchen erbringen. Daraus ergeben sich die folgenden Zielmärkte auf dem nationalen und europäischen Markt: Werkzeug- & Formenbau; Produzenten der kunststoffverarbeitenden Industrie; Maschinen- und Anlagenhersteller für die Kunststoffverarbeitung; Dienstleister zur Produkt-, Prozess- und Werkzeugentwicklung.
Die angestrebten Zielmärkte besitzen eine hohe Attraktivität und lassen eine umfassende Rentabilität für die entwickelte Prozess- und Werkzeugtechnologie zum energieeffizienten Kunststoffspritzgießen präziser 3D-Formteile erwarten. Die Attraktivität der Zielmärkte resultiert aus wechselseitigen Faktoren zwischen den beteiligten Unternehmen am Markt. Einerseits besteht am Markt eine zunehmende Nachfrage zu polymeren Leichtbauprodukten hoher Präzision und Festigkeit, dies trifft besonders auf den Automobilbau, die Multimedia- und Telekommunikationstechnik sowie die Medizintechnik zu, andererseits ist das herstellbare Teilesortiment und die erzielbare Abformgenauigkeit durch konventionelles Spritzgießen für diese Märkte immer noch begrenzt. Zusätzlich besteht aufgrund steigender Energiekosten und sinkender Ressourcen der Zwang zu mehr Effizienz und Nachhaltigkeit in der Produktion.
Am Markt existiert eine Vielzahl unabhängiger Entwickler, Produzenten und Dienstleister, die auf kompetenter Basis mit umfassendem Erfahrungswissen neue Kunststoffteile entwickeln, produzieren und anbieten. Diese sind jedoch nicht allein in der Lage neue Prozess- und Werkzeugtechnologien für effiziente Fertigungsstrategien zu entwickeln, selbst zu nutzen oder am Markt schnell und umfassend einzuführen. Gleichzeitig stehen den Werkzeug-, Formen- und Anlagenbauern, Produzenten von Kunststoffteilen sowie Engineering-Dienstleistern meist keine ausreichenden Ressourcen zur Entwicklung, technischen Erprobung und zur Markteinführung für derartige Fertigungstechnologien und zugehörigen Werkzeugen zur Verfügung. Aus diesem Grund stellt für alle am Markt beteiligten Zielgruppen eine enge Vernetzung von Produkt- und Prozessentwicklung, Fertigungsplanung und Werkzeugkonstruktion sowie Produktionskontrolle und -optimierung mit den Vorteilen neuer Prozess- und Verfahrenstechnologien einen Schlüsselfaktor dar, um neue Produkte schnell entwickeln, effizient zu produzieren sowie rasch am Markt einzuführen.