Ziel der Entwicklung
Instabiles Reibverhalten ist die Ursache für viele Störgeräusche im Automobilinnenraum. Vorbeugend können derzeit Leder und Kunstleder nach Verband der Automobilindustrie e.V. 230 206 an einem speziellen Stick-Slip-Prüfstand unter definierten Belastungen auf ihr Stick-Slip-Risiko geprüft werden. Die Quantifizierung erfolgt anhand der durch den Stick-Slip verursachten Beschleunigungsimpulse und wird als Risikoprioritätszahl angegeben. Die Stick-Slip-Prüfung ist gut etabliert und inzwischen fester Bestandteil von Spezifikationen nahezu aller Automobilhersteller. Im Fahrzeuginnenraum gibt es aber eine zunehmende Anzahl von Kontakten zwischen verschiedensten Materialien und mit unterschiedlichsten Belastungsbedingung und Kontaktbedingungen, die ebenfalls Störgeräusche produzieren können. Auch die vorbeugende Prüfung dieser Kontakte und die Nutzung anderer als der in dem Verband der Automobilindustrie e.V. 230-206 definierten Belastungen wäre zur Vermeidung von Störgeräuschproblemen wünschenswert. Dies ist aber noch nicht etabliert und stößt stellenweise an die Grenzen der derzeitigen Risikoprioritätszahlen Berechnung. Um diese Lücke in der Materialentwicklung und Qualitätssicherung zu schließen, sollte eine Auswertemethode entwickelt werden, mit deren Hilfe Stick-Slip-Effekte anhand einer beliebig aufgenommenen Reibkraftkurve identifiziert und quantifiziert werden können. Das Auftreten von Stick-Slip-Effekten ist in Reibkraftkurven anhand charakteristischer Abrisse zu erkennen, die zeitsynchron mit den Beschleunigungsimpulsen auftreten. Diese Reibkraftabrisse sollten analysiert und zur Quantifizierung von Stick-Slip analog zur Risikoprioritätszahlen Berechnung genutzt werden. Damit sollte es zum Beispiel möglich werden, die bei hohen Relativgeschwindigkeiten auftretenden, anregungsbedingten Störsignale von tatsächlichen Stick-Slip-Messsignalen zu trennen oder materialinterne Dämpfungsprozesse von sehr weichen, dicken Materialien zu berücksichtigen. Auch eine Übertragung auf andere Messanordnungen sollte so ermöglicht werden.
Vorteile und Lösungen
Die große Herausforderung bei der Umsetzung im Forschungsvorhaben war die Berücksichtigung der Vielzahl verschiedener Charakteristika real gemessener Reibkraftkurven, die sich in Abhängigkeit von Materialpaarung, Oberflächenstruktur, Gerät, Messeinstellungen und Umgebungsbedingungen komplett unterscheiden können. Außerdem sollten die Ergebnisse der neuen Methodik für den Fall der Prüfung nach Verband der Automobilindustrie e.V. 230-206 mit den Ergebnissen der derzeitigen Quantifizierungsmethode übereinstimmen, um eine problemlose Anwendbarkeit der neuen Methode sicherzustellen. Im Projekt wurden zwei verschiedene Algorithmen entwickelt. Der erste Algorithmus ist geeignet für hochabgetastete Reibkraftsignale mit Abtastrate gleich 1 Kilohertz. Nach Aufbereitung des Signals und Beseitigung anregungsbedingter Schwingungen wird eine reibkraftbasierte Risikoprioritätszahlen Note bestimmt. Für Prüfungen nach Verband der Automobilindustrie e.V. 230-206 korrelieren die Werte von Risikoprioritätszahlen und reibkraftbasierte Risikoprioritätszahlen Note mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,996 miteinander. Für 97 Prozent aller Messungen ist die Abweichung geringer als die angegebene Messunsicherheit der Risikoprioritätszahlen. Die entwickelte Methode ist aber auch für die Stick-Slip-Quantifizierung von dämpfenden Materialien, bei hohen Anregungsgeschwindigkeiten, mit beliebigen Bewegungsprofilen oder an anderen Reibungsprüfständen anwendbar. Da übliche Reibungsprüfstände allerdings oft nur deutlich geringer abgetastete Reibkraftkurven liefern, wurde eine zweite, alternative Quantifizierungsmethode entwickelt. Mit leicht zu bestimmenden Eingangsgrößen, Abrisse pro Millimeter und Abrisshöhe und dem statistischen Verfahren der multinomialen, logistischen Regression können Schätzwerte für die reibkraftbasierte Risikoprioritätszahlen Note bestimmt werden. Auch hierfür liegt für Prüfungen nach Verband der Automobilindustrie e.V. 230-206 eine sehr gute Korrelation mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,973 zur Risikoprioritätszahl vor. Da die entwickelten Algorithmen nur eine Reibkraftkurve und nicht wie die derzeitige Stick-Slip-Prüfung eine Beschleunigungskurve benötigen, sind sie auch für viele Fälle jenseits der Standardprüfung einsetzbar. So können andere Prüfparameter, realistischere Bewegungsprofile, dämpfende Materialien oder andere Reibungsprüfstände genutzt werden. Damit wird in Zukunft eine noch sicherere, realistischere und vielseitigere Beurteilung von Reibinstabilitäten möglich. Außerdem sind fortgeschrittene Analyse durchführbar, die es zum Beispiel erlauben, das Stick-Slip- und Reibungsverhalten in kurzer Zeit über einen breiten Geschwindigkeitsbereich zu charakterisieren.
Zielgruppe und Zielmarkt
Primärer Zielmarkt der erarbeiteten Methodik ist die Automobilindustrie. Derzeit kommt es trotz bestandener Stick-Slip-Prüfung immer wieder zu Problemen durch Störgeräusche, was unter anderem daran liegt, dass das breite Belastungskollektiv in der Praxis durch die Stick-Slip-Prüfung im Labor nicht vollständig abgedeckt werden kann. Die neuen Algorithmen erlauben eine noch realistischere und praxisnähere Stick-Slip-Prüfung sowie die Ausweitung der Prüfung auf neue Materialklassen. So können sie so dazu beitragen, aktuelle Probleme zu verringern und Kosten für Reklamationen und Gewährleistungen zu reduzieren. Weiterhin kann die Methodik die Hersteller von Interieurmaterialien und Bauteilen dabei unterstützen, ihre Produkte zielgerichtet bezüglich der Störgeräuschfreiheit zu entwickeln und optimieren. Forschungsseitig ist so eine bessere Untersuchung der Ursachen von Störgeräuschen sowie der Abhängigkeiten von verschiedenen Materialeigenschaften möglich. Eine spätere Erweiterung auf andere Bereiche und Branchen, in denen die Entstehung von Störgeräuschen im Reibkontakt von Bedeutung ist, wird mittelfristig erwartet.